Supermärkte üben auf Langzeitreisende, ähnlich wie Tankstellen, eine magische Anziehungskraft aus - mehr als alle historischen Gebäude. So auch in Sucre, hier finden wir sogar Sauerkraut und Thüringer Gewürzgurken im Glas. In diesem Moment wissen wir noch nicht, dass vor uns einer der deutschesten Reiseabschnitte liegt und wir greiffen beherzt zu. Hier in Sucre lösen wir auch das Problem mit den abgefahrenen Reifen. Wir lassen einfach die Reifen auf den Felgen drehen, Innenseite nach aussen - fertig ist der Lack. Vor den Toren der Stadt halten wir noch an einer Bretterbude. Wagenheber am Strassenrand weisen auf eine bolivianische Fachwerkstadt hin. Warum also nicht gleich den Stossdämpfer anschweissen lassen, zumal selbiger durch seine ungebremste Bewegungsfreiheit schon ein Loch in den Radkasten geschlagen hat. Gearbeitet wird hier noch nach eigener Vorstellungskraft und Augenmass.
Letzteres schien in unserem Fall durch die Schweissbrille stark beeinträchtigt gewesen zu sein. Die Reparatur war zwar sehr preiswert, aber eben auch nur billig. Denn selbst bei so einfach aussehenden Bauteilen wie bei Stossdaempfern, haben schweissbrillengedämpfte irreale Begriffe wie Montierwinkel, Verdrehspannung und Anzugsmoment eine gewisse Daseinsberechtigung, sonst sind die Dinger nach wenigen Kilometern zwar noch fest, aber gänzlich kaputt und damit auch funktionslos. Das Einzige, was von diesem Bauteil bleibt, ist die Erinnerung.
Unser nächstes Ziel ist Samaipata, ein kleines Dorf am Andenrand. Vor zig Jahren hatte der Guerillakämpfer "Che" Geuvara das Dorf überfallen, einen Polizeiposten ausgehoben und Waffen erbeutet. Noch heute eifern viele Jugendliche mit ihrem Aussehen dem einztigen Idol nach, wenngleich auch mit wohl wesentlich weniger Duchsetzungskraft, denn es reicht die hier patrollierende Armee mit echten Holzgewehren auszustatten. Was mag diesen "kastrierten" Rekruten wohl durch den Kopf gehen? Hatte man ihnen bei der Einberufung die volle Wahrheit gesagt? Das muss man sich mal bei der Bundeswehr vorstellen. Käme aber viel billiger!
Unser Reiseführer "Reise Know How", der sich schon wegen des Gewichts nicht lohnt mitzuschleppen, verrät allerdings noch mehr zu Samaipata. Hier gibt es etwas ausserhalb die Ruinen von El Fuerte de Samaipata, "die wirklich sehenswert sind". Sozusagen "die archäologische Hauptstadt des bolivianischen Ostens". Ein nationales Denkmal und wieder einmal mehr UNESCO-Weltkulturerbe - was zumindestens für die Entrichtung eines fast unverschämt hohen Eintrittspreises berechtigt. Selbverständlich nur für ausländische Touristen so hoch. Mit dem Eintrittsgeld und wohl auch dem Geld von der UNESCO werden Tribünen und Laufstege in grosser Entfernung um den Tempelfelsen errichtet.
Ausser ein paar Rillen und Mauernieschen ist aus dieser Entfernung nichts vom Tempel zu erkennen. Um den Tempelfelsen wiederaufgebauten kniehohen Grundmauern kleinerer Gebäudegruppen, versucht man mit dem Zauberwort "Inca" eine Bedeutung einzuhauchen. Das Ganze ist in etwa so interessant wie die Endmoräne eines längst geschmolzenen Gletschers. Zumindestens aber finden wir unterhalb der Ruinen einen tollen Platz am Fluss mit einem kleinen Naturpool. Toll zum Ausruhen, bis wir nach ein paar Tagen von der Armee gestellt werden.
Die eigentliche Atraktion von Samaipata steht aber noch in keinem Reiseführer - Insider kennen aber die geheimnisvolle Tür. Wer hindurchschreitet kann, ähnlich dem quantenmechanischen Tunneleffekt, gewissermassen einen Dimensionssprung in eine norddeutsche Kate vollziehen und wacht inmitten geräucherter Salami und Schinken auf. Auf dem Schild vor der Tür der bedeutungsvolle Hinweis: Metzgerei Aleman Griese. Bauchspeck, Weisswürste, Bratwürste Thüringer Art, Salami, Holsteiner Schinken. Unser Kühlschrank geht anschliessend nur noch gewaltsam zu. Nach der langen Zeit der Entbehrung werden wir uns wieder unserer Herkunft bewusst.
Weiter unten im bolivianischen Tiefland, in Santa Cruz, finden wir zu dem noch Kassler und Senf. Mehr positives ist von dieser Millionenstadt eigentlich auch nicht zu berichten. An diesem Abend gehen uns jedoch nur wenige Dinge buchstäblich durch den Kopf: Kartoffeln, Sauerkraut und viel, viel Fleisch....
Von Santa Cruz aus geht es weiter Richtung Osten. Lange Strecken durch Weideland, dazwischen ein paar Palmen. Die Nacht ist bereits hereingebrochen bis wir endlich einen Standplatz in einem ruhigen Dorf finden. Sehr sauber und ein paar Bäume spenden Lichtschutz vor den Strassenlaternen. Die Nacht ist schwülwarm. Wir schlafen unruhig, spüren die fremden Energieen. Als wir aufwachen sehen wir uns in Japan. Kein Zweifel: japanische Schriftzeichen, japanische Gesichter und japanische Sprache. Die Strassenkarte, zugegeben nicht sehr genau, zeigt eindeutig Bolivien. Der Ortsname ist aber eindeutig japanisch, genau genommen Okinawa 1. Wieder ein Dimensionssprung?
Zu meinen Gunsten verbrachte ich meine Kindheit in einem Mehrfamilienhaus, in dem auch eine japanische Familie wohnte, was mich mit den Sitten und Gebräuchen dieses fremden Volkes vertraut machte. Und wer kennt ihn auch nicht, diesen abende füllenden Spielfilm: Europäer kommt nach JApan, lernt die Sprache, die Kultur und verliebt sich natürlich auch noch ganz nebenbei. War nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Also raus auf die Strasse: "Konitschiwa. Hai. Toranaga sama. Hai. Anschin san. Hai". Und immer wieder verbeugen, das ist wichtig bei Japanern. Nach einer Weile tut mir der Rücken weh, aber ich hatte erreicht was ich wollte. "Fahrt weiter nach Osten, dort werdet ihr euch an einem Fluss in Bolivien wieder finden" sagt man uns.
Die Strasse wird schlechter, Asphalt weicht dem Schotter. Schliesslich verliert sich die Piste in einem Sandsturm, wir bleiben Stecken. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir die Siluette eines Traktors. Katrin läuft hin und kommt mitsamt Traktor und Fahrer zurück. Es ist tatsächlich ein Bolivianer, kein Zweifel, wir sind in Bolivien. Klingt komisch, ist aber so.
Die Flussüberquerung mit der Fähre kommt uns teuer zu stehen. Erstens weil wir Touristen sind und zweitens wer will schon den Umweg zurück über Japan nehmen? Nach zähen Verhandlungen ist der Preis festgelegt und der Bus wird auf die Fähre gefahren. Interessant sind die Motoren der Fähre: sie sind wassergekühlt, laufen mit Schnaps und können sprechen. Dementsprechend lustig ist die Überfahrt.
In den nächsten Tagen führt uns der Weg weiter durch das bolivianische Tiefland. Entlang der vielen Jesuitenreduktionen, von denen einige sehr gut restauriert worden sind. Die meissten wurden um 1750 gegründet. Um einen grossen Versammlungsplatz lagen Wohnhäuser und eine Kirche. In den Wohnhäusern lebten die Indianer unter der Aufsicht der Jesuiten und waren so vor Sklavenjägern und Verschleppung sicher. Die schönsten Reduktionen sind San Javier, San Jose de Chiquitos und San Ignacio de Velasco. Bei letzterer kann man sehr gut an einem Stausee campen und ausruhen (laut Reiseführer befindet sich dieser See in Concepcion, 200 Kilometer westlich. Ist aber nicht so!).
Von San Jose de Chiquitos geht es zurück nach Santa Cruz - auf der staubigsten und schlechtesten Strecke, die wir in Südamerika gefahren sind. Zentimeterhoch liegt der Staub auf der Piste. Feinpulverisiert. Es ist, wie wenn man durch eine Mehltüte faährt. Der Staub spritzt seitlich wie Wasser unter den Reifen hervor und dringt durch alle Ritzen, von denen ein alter VW-Bus sehr viele hat. Unter der Staubschicht sind tiefe Schlaglöcher versteckt, in die wir hereinkrachen. Langsam geht es voran, sehr langsam. Auch hier werden EU-Millionen zu Staub verpulvert, oder wenn der nächste Regen kommt, im Matsch versenkt. Dennoch ist die Strecke interessant, denn hier sind offensichtlich Zeitreisen möglich. Wer sich traut von der Piste abzibiegen, kommt nach mehreren Kilometern Feldweg in die deutsche Vergangenheit zurück.
Hier fährt man noch mit der Pferdekutsche, Frauen tragen lange Kleider und Strohhüte, ihre strengen Frisuren erinnern an die Jahrhundertwende. Männer tragen Latzhosen und Hemden bei der Arbeit auf den Feldern. Fast alles wird selbst hergestellt, man lebt fast autark. Hier leben sie, die Mennoniten, deren Name sich von dem Friesen Menno Simons (1496 bis 1561) ableitet. Eigene Schulen, keine Kindstaufe, Wehrdienstverweigerung, eigene Sprache und traditionelle Lebensgewohnheiten. Hier wird ein altes Plattdeutsch gesprochen, aber weil in der Schule auch Hochdeutsch gelehrt wird, versteht man uns.
Die Mennoniten sind zurückhaltend, aber auch sehr interessiert und wir kommen schnell in Kontakt, zumal sie sehr an unseren Büchern mit deutschen Wurst- und Käserezepten interessiert sind. Elias kann hier mit einem alten Traktor fahren, während wir uns über unser Leben in Deutschland und das Leben der Mennoniten hier in Bolivien unterhalten können. Erstaunt werden wir gefragt, warum wir nur ein Kind haben. Hier hat man zwischen 6 und 10 Kinder, es können aber auch mehr sein. Wir steuern verschiedene Siedlungen an, aber je weiter wir in Richtung Santa Cruz kommen, desto uninteressierter sind ihre Bewohner an uns. Hier in der Nähe der Millionenstadt sieht es fast schon aus wie in Norddeutschland und es geht nur noch um das grosse Geschäft.
Es war auf jeden Fall eine abwechslungsreiche interessante Runde durch das Tiefland, wenn auch sehr staubig und anstrengend. Von Santa Cruz aus geht es Richtung Süden an die Grenze zu Argentinien. Mehr oder weniger eingezäuntes Buschland, nicht sehr interessant, aber dafür auf Teerstrasse...
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